Als Tim und Struppi begannen die Welt zu bereisen, erreichte der zivile Luftschiffbau seinen Höhepunkt. Tim fuhr und flog alle technischen Gerätschaften, doch einem Luftschiff ist er nicht ein Mal begegnet. Verpasste Chancen für legendäre Begegnungen. Eine kleine Spekulation … Teil III (zu Teil I, zu Teil II)
Zu Beginn der Geschichte »Tim in Amerika« (1931–1932) erreicht der Reporter die amerikanische Metropole Chicago per Zug. Es wird nie gezeigt, wie er in die Neue Welt kam. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass er an Bord eines Schiffes gegangen war, in Antwerpen vielleicht. Damit erreichte er in etwas über einer Woche New York. Seine Reise kann jedoch auch deutlich schneller und spektakulärer gewesen sein.
1931 war es zwar nicht mehr neu, dass Luftschiffe in der Marinebasis Lakehurst, New Jersey, landeten, aber außergewöhnlich genug, die Massen anzuziehen war es allemal: Menschen strömten auf das offene Feld, sie reckten die Hälse, ihre Hüte flogen im Wind fast davon.
Sie alle warteten auf jenen Punkt am Horizont, der dann rasch größer wurde, sich schnell näherte und gekonnt über dem Gelände zum Halt kam: Der GRAF ZEPPELIN, 237 Meter lang, war 1928 erstmals hier gelandet und hatte zwischenzeitlich eine Weltumrundung hinter sich.
Winkend steht Tim an einem der Fenster im großen Aufenthaltsraum der Gondel. Struppi an seiner Seite hält neugierig Ausschau. Die Marinesoldaten ziehen das Luftschiff zu Boden, so dass die Passagiere aussteigen können. Mit Sack und Pack zieht der Reporter los. Auf nach Chicago!
Auf der Basis Lakehurst hatte man viel Übung mit derartigen Starr-Luftschiffen, etwa der hier gebauten SHENANDOAH (Erstflug: 1923, Abgestürzt: 1925). Ebenso der in Friedrichshafen gefertigten LOS ANGELES, die 1924 über den Atlantik geflogen war und erst 1939 abgewrackt wurde.
Nach früheren Planungen hätte der GRAF ZEPPELIN, der möglicherweise Tim und Struppi binnen dreier Tage bis Amerika trug, zusätzlich Chicago ansteuern sollen. Perfekt für den Einstieg zu »Tim in Amerika«. Doch leider wurde das nie Realität.
Die tatsächliche Landung in Lakehurst lag schlussendlich zu weit ab. Diese Ankunft war für die Geschichte nicht wichtig genug, um von Hergé aufgezeichnet zu werden. Welch ein Jammer!
Wenig später, tief im Landesinneren, jagt Tim dem Gangsterboss Bobby Smiles hinterher. Wie spektakulär wäre eine Verfolgung an Bord eines Luftschiffes gewesen! Der ZMC-2 (1929-41), das einzige erfolgreiche Ganzmetall-Luftschiff, hätte sich vielleicht geeignet. Anderseits … Die aus Duraluminium bestehende »Tin Bubble« (Blechblase) erwies sich letztlich als schwierig zu steuern und heizte sich zu sehr auf, was die Tragkraft beeinträchtigte.
Einen phänomenalen Auftritt hätte Tim an Bord der 1931 in Dienst gestellten AKRON haben können. Dieses von GOODYEAR und ZEPPELIN gebaute Träger-Luftschiff hatte einen Hangar für kleine Doppeldecker im Bauch, die am Gestänge ein- und ausgeschleust wurden. Man stelle sich vor, bei der wilden Jagd auf Smiles, springt Tim in eines der Flugzeuge und saust mangels Zeit stracks durch die dünne Hülle der AKRON. Sehr zur Überraschung des Gangsters.
Doch diese amerikanischen Schiffe gehörten der Navy – Bobby Smiles wäre nicht an Bord gekommen, um zu flüchten. Und Tim nicht zur Verfolgung.
So platzt über Amerika ein weiterer Luftschiff-Traum.
Das Abenteuer »Die Zigarren des Pharaos« (1932–1934) beginnt an Bord eines Dampfers auf Mittelmeer-Kreuzfahrt. Das hätte Tim weitaus luxuriöser haben können, doch erstens legte der Reporter darauf nie großen Wert und zweitens stand der britische Luftschiffbau bedauerlicherweise unter keinem glücklichen Stern.
Wäre alles gut verlaufen, hätte sein fliegendes Hotel namens »R101« in Cardington abgehoben. Adria und Ägäis überquert. Entlang der Levanteküste eingedreht. Elegant nahe Kairo vom Himmel herab geschwebt. Der Zwischenstation nach Indien.
Der Salon an Bord war groß, bot bequeme Korbstühle und Tim hätte an einem Tische Platz genommen und Tee geschlürft. Struppi seinerseits beschnuppert neugierig das mondäne Publikum.
Für seine Zeit war die Reise von märchenhaftem Luxus.
Die britischen Versuchsluftschiffe R100 und R101 sollten Großbritannien mit seinen fernen Kolonien verbinden. Unglücklicherweise handelte es sich um konkurrierende Entwürfe mit jeweils eigenen Problemen, da die Luftschiffbauer ihre Erkenntnisse nicht teilten.
1930 landete »R100« nach 78 Stunden Flug in Kanada. Ein Traum! Im Anschluss an die umjubelte Rückkehr wurde das andere Schiff fertig für seine Reise gemacht.
Tragischerweise verunglückte die R101 zu Beginn ihres ersten Langstreckenfluges bei schlechtem Wetter über Frankreich. 48 Menschen starben. Daraufhin wurde R100 abgewrackt und alle Luftschiffpläne aufgegeben.
Wäre das Unternehmen gelungen, hätte Tim den Ankerplatz in Kairo angesteuert – jenen Ort, an dem die britischen Behörden eigens eine Anlegestelle errichteten, als Tor zum Osten.
Britische (wie amerikanische) Starr-Luftschiffe sollten am hohen Ankermast anlegen und nicht immer bis zum Boden oder gar in eine Halle gezogen werden, wie Zeppelin es praktizierte. Für Ein- und Ausstieg konnte man durch eine Luke am Bug klettern. Das Schiff tanzte bei Seitenwind zwar um den Mast, aber der wechselnde Auftrieb, je nach Lufttemperatur, brachte Schwierigkeiten. Dazu kamen Befestigungsprobleme, so dass die LOS ANGELES anno 1927 sogar einen Kopfstand vollführte – glücklicherweise nicht mit Zivilisten an Bord.
Ähnlich wie auf dem Dampfer ISIS konnte der Professor auf dem Luftschiff seinem Papyrus nachjagen. Und wohl auch Rastapopoulos treffen. Ja, man hätte Tim als vermeintlichen Schmuggler sicherlich irgendwo weggesperrt. Der Reporter wäre freilich von dort entkommen, um das Abenteuer um Waffen- und Rauschgiftschmuggler ebensogut zu erleben.
Das Schicksal hat es anders gewollt.
Ein großer oder kleiner silberner Riese hätte auch der Begebenheit rund um »Die schwarze Insel« (1934–1935) gut zu Gesicht gestanden.
Die erste Atlantiküberquerung und Rückkehr eines Luftfahrzeugs war im Juli 1919 dem in England gestarteten Starrluftschiff R34 gelungen. Eine großartige Leistung, doch wie oben angemerkt war die offizielle britische Luftschifffahrt zur Zeit von Tims Abenteuer in England bereits beendet.
Dennoch: die Falschmünzer in Tims Abenteuer hätten ihre Geldsäcke von einem eigenen kleinen Luftschiff anstatt von knatternden Flugzeugen abwerfen könne! Das Schiff konnte niedriger fliegen und bei günstigen Bedingungen direkt über der Stelle schweben. Nahezu ideal für die Unternehmung. Tagsüber erregt es allerdings noch mehr Aufsehen als eine Propellermaschine und wäre wohl kaum unbemerkt zur schwarzen Insel geschwebt.
Bei der Verfolgung mittels Flugzeug hätte Tim von seiner Maschine aus auf den Rücken des Luftschiffes springen können. Dort »spazierten« allenfalls erfahrene Luftschiffer zum Flicken der Hülle. Sich am Sicherungsseil voran hangeln – Genau richtig für den rasenden Reporter! Aber ein solches Manöver wäre womöglich doch etwas zu waghalsig gewesen.
Wie ist es umgekehrt? Tim verfolgt das Flugzeug der beiden aus dem »Ye White Hart« fliehenden Gangster?
Zur damaligen Zeit konnte ein ordentlich motorisiertes kleines Prall-Luftschiff einem Kleinflugzeug durchaus folgen. Was wenn die Marine ein altes Stück auf dem Flugfeld des »Halchester Flying Club« vorführen wollte, das Tim dann kapert? Oder ein verrückter Erfinder möchte seinen Entwurf testen und lädt den Reporter begeistert zur Mitfahrt ein? Schrullige Gelehrte trifft Tim allenthalben.
Nun, ja. Für die Umarbeitung und Modernisierung der Geschichte in den 1960er Jahren eigneten sich Doppeldecker natürlich besser. Luftschiffe hätten noch stärker aus der Zeit gefallen gewirkt, wie die Schlüsseljagd der wackeren Feuerwehrleute.
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Und damit kommen wir ans Ende dieses Fluges …
Tim und Struppi haben wohl nie das sanfte Schweben an Bord eines Luftschiffes erlebt. Der gewaltige Rumpf der großen silbernen Zigarren warf nie seinen Schatten über ein Panel. Nun bleibt eine kleine Leerstelle beim Blick auf Tims Welt, in der Autos oder Flugzeuge doch so akkurat seine Zeit widerspiegeln. Es hat nicht sollen sein. Die Ära der großen Luftschiffe war zu kurz und ob sie jemals wieder kommt, steht in den Sternen.